Nachdem ich mich auf verschiedenen Bahnhöfen herumgetrieben habe, dabei zweimal bis ins Knochenmark gefrostet wurde, einen Anschlusszug wegen opulenter Verspätung ver- passte, mir danach immerhin die eine Hand an einer Art Wassersuppe wärmen konnte (auch die Azteken haben ihren Kakao damals schließlich schon mit Wasser angerührt), mit Unterstützung der Bahngöttin (hl.Gleisa) trotzdem noch einen Sitzplatz im Nachfol- gezug fand, und sogar, in Hannover angekommen, noch die Kraft fand, mir im Bahnhof einen Liter Milch und ein Pizzaeis im Flachkarton zu besorgen.
Im Wohnzimmer empfing mich der Weihnachtsbaum, den ich am ersten Feiertag über- stürzt zurückgelassen hatte. Doch er schmollte nicht und sah noch prima aus. Ich überlege jetzt, ihn vielleicht bis zu meinem Geburtstag stehen zu lassen.
Von der Reise habe ich ein paar nette holländische Produkte mitgebracht (zum Teil zeige ich die hier noch), was auch Freund M. gefreut hat, der gleich über die Straße gelaufen kam, um sich seinen Anteil zu begucken und sich bei dieser Gelegenheit in meine Bade- wanne zu betten. Das macht er immer, wenn eine Erkältung was von ihm will, und er will aber nix von der. Natürlich wäre es einfacher, er würde zuhause baden, aber das geht gar nicht, weil er nur eine Dusche hat. (Es sei denn, man lässt das Stehen im knöcheltiefen Wasser als Baden durchgehen.)
Jedenfalls muss ich mich hier erstmal wieder sortieren, denn in meinem Kopf ramentert gerade alles durcheinander und ich gehe ein bisschen neben meinen Schuhen her, wie man hier so sagt. Allerdings ist der Januar sowieso auch ein von mir äußerst ungeliebter Monat, weil mir da in den letzten Jahren eigentlich immer die härtesten Sachen passiert sind. Da habe ich ab und an mal nicht aufpasst, wurde plötzlich auf links gedreht und hatte dann den Rest des Jahres damit zu tun, mich wieder zurückzukrempeln. Dazu kommt: Auch der Februar ist nicht schön. Schön wäre, ein bisschen am Kalender herum zu drehen, damit übermorgen März ist, aber das habe ich schon vergeblich versucht…
„Worüber denkst Du öfter nach: Über Deine Vergan- genheit (Jugenderinnerungen, Streit mit den Eltern, erste Liebe, Kinderhoffnungen…) oder über Deine Zukunft (Pläne, Wünsche, Befürchtungen, Lebens- ziele…)?“
Antwort:
Das ist leicht: Über die Vergangenheit.
Weil ich die kenne. Aus der Vergangenheit habe ich Bilder, schöne und unschöne, die sich immer mal einstellen, ob ich das will oder nicht. Die Zukunft kann ich mir ja nur vorstellen, weiß aber nicht richtig, wie sie aussehen wird. O.K., auch die Erinnerung verändert sich ständig, über die Zukunft kann man aber nun wirklich nur Vermutungen anstellen.
Ich hab’ fast noch nie so richtig viel geplant oder große Ziele gehabt. Und als ich es mal tat, kam natürlich alles ganz anders und ich hatte eine Weile ganz schön zu tun, damit klarzukommen. Heute bin ich übrigens sehr froh, dass meine Pläne von damals scheiterten.
Im Moment allerdings bin ich in einer Phase, in der ich planen müsste, und es fällt mir schwer, das merke ich. Eigentlich habe ich bisher immer darauf vertraut, dass die Dinge sich schon so hinschieben werden, bzw. ich flexibel genug bin, mit allem klarzukommen, was sich ergibt. Das ist aber immer weniger leicht. Es bieten sich auch nicht mehr stän- dig neue Wege, ich muss mir immer öfter selbst welche bauen, und das find’ ich ziemlich schwierig.
Leider bin ich fast gar nicht ehrgeizig, was das Erreichen von Zielen angeht, deshalb setze ich mir auch kaum welche. Meine Energie lege ich eher in meinen Umgang mit Anderen. Da habe ich hohe Ansprüche an mich selbst und das spielt sich ja auch fast ausschließ- lich im Jetzt ab. Also im Alltag. Aber natürlich hat das auch wieder viel mit vergangenen Erfahrungen zu tun.
Nach hinten zu gucken ist eben einfacher, denke ich. Selbst wenn man’s gar nicht bewusst tut, tut man’s. Nach vorne zu sehen ist ein aktiver Prozess, das tut man absichtlich. Oder?
Lieber Sansibar, ich glaub‘, mit all‘ Deinen Fragen könnte ich glatt bis Ostern durchkalendrisieren… Aber soweit plane ich ja nicht voraus. 😉 Lieben Gruß, Theobromina
Da Sansibar mir netterweise so viele Fragen geschickt hat, kann ich heute mal gleich zwei davon beantworten und dann habe ich immer noch sechse übrig! Jungejunge. Also habe ich mir für heute diese beiden ausgesucht:
1. – „Hast Du Angst vor einer möglicherweise nahen Klimakatastrophe?“
2. – „Glaubst Du, dass es außerirdisches Leben gibt?“
Antwort:
Zur ersten kann ich sagen: Auha! Ganz schön dicke Frage. Nein. Hab’ ich nicht.
Das würde mir ja auch gar nichts nützen. Also, das Angsthaben. Das Klima ändert sich sowieso ständig, das hat es ja wohl schon immer getan. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir in Zukunft mehr starke Stürme haben, dass es vielleicht wärmer wird, dass es Überschwemmungen gibt. Ich war im Januar sehrsehr traurig, weil eine von den beiden Pappeln, die vor meinem Fenster standen, von „Kyrill“ umgeworfen wurde. Ich liebte diese Bäume und hab’ sie oft betrachtet oder nur dem Rau- schen ihrer Blätter zugehört. Jetzt steht der andere Baum allein da und ich befürchte, dass er beim nächsten starken Sturm sehr zu kämpfen haben wird. Wenn er auch noch fiele, wäre ich noch viel trauriger. Und im Juli, bei einem anderen Sturm, brach ja auch noch die alte Weide zusammen, an der ich auf meinen Spaziergängen immer vorbei kam, und in die ich oft geklettert bin, um nachzudenken. Ich hab’ hier schon darüber geschrieben.
Aber ob das was mit dem Klimawandel zu tun hat? Alte Bäume fallen eben irgendwann, das muss auch so sein. Und so gibt es auch kein gleichmäßiges Klima, und wenn wir uns das noch so wünschen. Schwankungen hat es immer gegeben. Auch Stürme hat’s übrigens schon früher gegeben. Die Natur macht ohnehin die schönsten und wildesten Sachen. Wie wir das finden, und ob wir das wollen oder nicht, ist ihr völlig schnurz. Deshalb können wir uns eigentlich nur anpassen, so gut es geht. Naja, ich hab’ gut reden: Hannover steht nicht gerade in Gefahr, bald überflutet zu werden. Auch Hurricanes sind hier selten. Nach Tuvalu allerdings würde ich jetzt nicht gerade umziehen wollen.
Ich bezweifle übrigens, dass der Mensch wirklich so irre viel mit dem Klimawandel zu tun hat. Es gucken ja jetzt alle so auf den CO2-Ausstoß. Damit ich hier jetzt nicht falsch verstanden werde: Ich bin total dagegen, Ressourcen zu verballern, gucke auch, ob ich irgendwo sparen und/oder die Umwelt schonen kann. Das sollte selbstverständlich sein. Aber ob z.B. der von Menschentechnik produzierte CO2-Ausstoß wirklich so viel zum Klimawandel beiträgt? Da sind sich ja nicht mal die Forscher richtig einig. Dass das jetzt so’n Thema ist, hat auch viel damit zu tun, dass man damit offenbar Stimmung und Geld machen kann. Heraus kommen Aktionen wie: 5 Minuten Licht aus!, die ich für totalen Quark halte.
Bestimmt ist es gut, CO2 einzusparen. Aber es ist auch mindestens genauso wichtig, die Regenwälder nicht abzuholzen, keinen Atommüll zu produzieren (der anschließend ins Meer gekippt oder in Lagerhallen aufbewahrt wird), die Erdoberfläche nicht mit Beton zu versiegeln, die Meere nicht leer zu fischen und vollzumüllen, und wattweißich.
Alles Themen, die gerade zurückstehen müssen. Ich könnte noch viel mehr Themen auf- zählen, die ich für dringender halte, und worüber ich mich in kleiner Runde in meiner Küche öfter mal aufrege, aber ich habe mich mal entschieden, sowas aus meinem Blog eher rauszuhalten. Sonst komme ich hier gar nicht mehr weg. Außerdem lässt sich’s hier nur mühsam diskutieren.
Was ich sagen will, ist: nein ich hab’ keine Angst vor einer Klima- bzw. Naturkatastrophe. Ich weigere mich, auf Ansage panisch zu werden. Da muss was faul sein. Ich hab’ eher Angst vor anderen Sachen im Umweltbereich, von denen man weiß, dass Menschen sie verbocken. Und dann wird mir sowieso auch noch schlecht von noch ganz anderen Sachen…
Zu Frage 2: Ja, ich bin sogar fest davon überzeugt. Wie es aussieht, das außerirdische Leben, weiß ich natürlich auch nicht. Aber bei soviel Platz im Universum sollte es mich doch stark wundern, wenn wir die Einzigen sind auf weiter Flur.
Ein paar lustige Mikroben gibt’s doch bestimmt schon in der Nachbarschaft. Und vielleicht sind die da drei Meter groß, wer weiß? Ob ich mir allerdings Kontakt wünsche, weiß ich nicht so richtig. Nachher versauen wir denen auch noch ihren hübschen Planeten!
Wir gehen ja immer davon aus, dass Außerirdische entweder superklug sind und über die dollste Technik verfügen, oder dass sie sich noch im Bakterienstadium befinden. Vielleicht sind die aber auch fast genauso wie wir und sehen auch noch ziemlich wie wir aus. Das wäre doch auf eine nette Art unsensationell. Wenn sich rausstellt, dass die Schöpfung oder die Natur oder werweißich im Grunde ziemlich einfallslos ist. Überall Büroangestellte im Pullunder.
Also, mir würde das irgendwie gefallen…
Heute mal „naturgewaltige“ Grüße an Sansibar und in alle Außenwelten, von Theobromina
Plötzlich fehlt mir da was. In den Kommentaren hat sie sich in einen „Besucher“ verwandelt und ihre wunderschönen Gedichte sind alle weg. Hat sie ihr Gehen denn angekündigt? Dann war ich wohl unaufmerksam… Ohje. Bestimmt hat sie starke Gründe. Ob sie mal wiederkommt? Liebe S., hier kriegst Du, wann immer Du magst, einen schönen heißen Kakao! (Nachtrag nach dem Lesen Deiner Nachricht: Ich Dich auch. Die Tür lassen wir angelehnt, ja?)
Gestern hat es hier ordentlich geregnet und der Wind hat den Regen immer mal in die Waagerechte gepustet. Wenn man zuhause am Fenster sitzt, ist das gemütlich. Wenn man mit vollem, schwerem Rucksack vom Einkaufen nach Hause radelt, ist das anstren- gend. Als ich zum Lindener Markt komme, und in die Posthornstraße rechts abbiegen will (so richtig mit Hand raushalten und so), kommt mir dort ein Wagen quer, er will in die Einfahrt der Post, und zwar mit Karacho!
Alles geht ganz schnell, ich blicke noch ins Fahrergesicht, sehe Schockschreck, – genauso gucke ich bestimmt auch gerade. Ich sehe mein Vorderrad an seiner Stoß- stange, fühle schon einen Aufprall, sehe mich schon auf der Haube oder drunter liegen. Doch er hat gute Bremsen und trifft sie auch. Mein Herz schlägt wieder.
Ich stehe genau quer vor seinem Auto, zwischen uns sind nur noch wenige Zentimeter. Meine flache Hand schnellt hoch auf mein Brustbein, ich sacke etwas ein: die interna- tionale Geste für „großer Schreck und noch mal davongekommen“. Ich schreie ihn an: „Mann!“, steige wieder auf und fahre weiter. Nun merke ich auch, wie meine Knie verreisen und der Kopf wieder loslegt: Das war aber echt knappski! Weihnachten im Gipsbett und so…
Ich will nur weg, flüchten, nach Hause. Ich brauch’ jetzt ’nen Kakao. ‚Nen starken.
Neben mir taucht das Auto wieder auf, der Fahrer hat die Scheibe runtergekurbelt und entschuldigt sich heftig, er habe mich nicht gesehen, ich sei im toten Winkel gewesen, er sei untröstlich, und ob er was für mich tun könne. Ich rufe: „Ja!!! Nicht wieder machen!“ und strample weiter. Er wolle heute Abend für mich beten, sagt er. Meinetwegen. Ein mittelalter Mann, ein Bürger. Fast tut er mir leid, er windet sich in Schuld. Ich will nach Hause. Also lächle ich ihn an und rufe: „Ist ja zum Glück nix passiert, da können wir beide doch froh sein! Ich bin in Ordnung, es war ja nur ein Riesenschreck!“ Dabei prasselt der kalte Regen auf meine Brille und ich lasse mich nicht aufhalten. Hause. Kakao. Lass’ mich.
Er fährt an mir vorbei. Doch 100 Meter vor mir hält er an, öffnet die Tür, kommt mir mit ausgestrecktem Arm entgegen. Er will mir die Hand geben, also halte ich auch an, obwohl ich gar nicht will. Er faselt was von: “…wenigstens ein kleines Schmerzensgeld, auf den Schreck, – es tut mir so leid!“, und drückt mir die behandschuhte Hand. Ich sage noch mal: „Neinnein, …ist ja gut. Ist ja alles gut gegangen, nix passiert…“ Dann steigt er wieder ins Auto, und ich beeile mich auch, wieder loszuradeln.
Er hat mir einen zerknitterten 5-Euro-Schein in die Hand gedrückt! Und ich habe ihn genommen, ohne zu denken.
Der Schein wandert in die Tasche. Mir kommt ein komi- sches Gefühl. Einen hässlichen verknitterten 5er für’s Nichtüberfahrenwerden? Was für eine Art Ablasshandel hat hier gerade stattgefunden? Jetzt fühle ich mich ganz merkwürdig. Ich bin beschämt. Eigentlich sollte er sich schämen! Das mit dem Fast-Anfahren nehme ich ihm nicht übel. Das hätte mir auch passieren können, und er hat gut reagiert.
Bis er die Idee mit dem Freikauf hatte. Er wollte sich unbedingt entschuldigen, im Wortsinn. Doch das ist gründlich daneben gegangen.
Den 5er kriegt jedenfalls der erste Punk in die Hand gedrückt, der mich morgen in der Innenstadt anschnorrt…
Jetzt weiß ich endlich wieder, was ich schon seit Wochen suchend im Hinterkopf herumrolle. Es wollte und wollte mir einfach nicht einfallen.
Es hat was mit einer Madeleine zu tun. Eigentlich mit dem Gebäck, und nicht mit der verschwundenen kleinen Maddie. Im Moment regen sich ja gerade alle wegen dieser T*tanicsache auf. Ich kann dazu nur sagen: Satire darf alles. Muss alles dürfen. Man muss das Ergebnis aber nicht gut finden. Das Nichtgutfinden drückt man dann eben über’s Nichtkonsumieren aus. Das funktioniert immer noch am Besten. Mir kann keiner erzählen, dass die Titanic mit dem aktuellen Heft plötzlich eine Mörderauflage hat. Ich glaub’, da wird mal wieder am falschen Ende gestritten.
Aber ich wollte ja über Gebäck schreiben. Nee, über’s Vergessen und Erinnern! Was denn jetzt? Man steigt ja nicht mehr durch! Gebäck, Satire, dicke Schiffe, wieder Gebäck, dann plötzlich Vergessen? Spinnt die Theobromine jetzt oder wie? Neenee, alles gut.
Also: Seit ungefähr zwei Wochen versuche ich mich zu erinnern, wie dieser Schriftsteller hieß, der immer im Zusammenhang mit Madeleines genannt wird. Madeleines sind näm- lich so kleine französische Küchlein, oft mit zartem Orangen- oder Mandelaroma. Und dieser Schriftsteller hatte was geschrieben über Erinnerungen, die verknüpft sind mit Düften oder Geschmäckern. Und ich hatte mich darüber unterhalten, wusste aber nicht mehr, wer. Gestern habe ich mir sogar Madeleines gekauft, weil mir nun ebenfalls wieder eingefallen war, dass ich die auch lange nicht gegessen hab’. Heute hat’s mir dann gereicht und ich hab’s im web gegockelt.
Proust war’s nämlich, der wohl in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ die Pforten der Erinnerung mit einer Madeleine öffnete. Hab’s nie gelesen. Vielleicht fiel es mir deswegen nicht ein. Gut, dass man heutzutage ein mobiles Gedächtnis wie den Gockl hat. Eigent- lich macht man sich’s zu einfach, wenn man da reinguckt, aber ich hab’ ja wenigstens zwei Wochen gewartet.
Was ich nicht im web fragen konnte, war das andere, was mich ebenfalls beschäftigte. Vor gut zwei Wochen war ich nämlich in Begleitung im „Mezzo“, das ist hier so ein Kneipencafé in der Innenstadt. Da bediente uns eine junge Frau, die mir bekannt vorkam. Ich kam aber nicht drauf. So eine ganz hübsche Rotblonde mit Knutschmund, aber ernstem Blick. Ich fing an zu grübeln. Eine Freundin von Freunden? Hätte ich jetzt ausführlicher „Hallo“ sagen sollen? Falls sie mich kannte, ließ sie sich nichts anmerken. Sie war recht jung, vielleicht aus einer mal besuchten WG? Oder hatte ich sie am End’ mal im Fernsehen gesehn? Eine junge Schauspielerin vielleicht? Oder eine Poetry-Slammerin? Kannte ich sie aus einer anderen Kneipe vom Sehen? Mein Begleiter wusste auch nichts dazu zu sagen. Doch mich beschäftigte das. Tagelang. Immer wieder tauchte das auf.
Und vorgestern saugte ich Staub. Und dachte daran, dass meine Nachbarn unter mir bestimmt gerade die Motten kriegen, weil ich so herumbollerte. Und ZACK! – da war’s. Sie hieß D. und hatte unter mir gewohnt vor ein paar Jahren. Und da immer ihren Hund angeschrieen. Wenn der bellte, schrie sie sofort: „GAYA! AUS!!! AAAAAHUUUUS!!!“ und war viel lauter als der Hund. Irgendwann fing das richtig an, mir auf die Nerven zu gehen. Gaya bellte natürlich trotzdem, – wenn Frauchen immer so schön zurückbellt…
Außerdem spielte Frauchen gern nachts um Dreie, oder tagsüber um Einse, egal wann, „Just like a pill“ von Pink. Und zwar volle Pulle, achtmal hintereinander weg undsang dazu. Und Gaya… Lassen wir das. Jedenfalls, und was ich eigentlich sagen wollte, es müssen nicht unbedingt zarte Gebäckteilchen sein, wenn’s in der Erinnerung hakt.
Ich fürchte, nun lässt es sich nicht mehr ignorieren: Herbst. Das ist die Jahreszeit, die ich am wenigsten mag. Könnte man meinetwegen weglassen. Denn nun wird das Licht immer weniger, alles legt sich schlafen und es wird ewig dauern, bis da wieder Leben reinkommt. Das lässt mich jedes Jahr durchhängen, mal mehr, mal weniger. Da hilft eigentlich nur noch Likör. Freundin T. z.B. hingegen liebt den Herbst und auch den Winter, und jedes Jahr streiten wir gutmütig darüber, wer von uns Recht hat. Sie mag die bunten Blätter, und auch Schnee findet sie zum Seufzen schön. Ich muss aber doch schlucken, wenn die Blätter fallen und alles so braun und abgestorben aussieht. Und Schnee: na ja, mal so für eine Woche, bitte sehr… Ach so, und das „gemütliche Teetrin- ken“ mache ich doch sowieso das ganze Jahr über! Zur Not backe ich mir sogar Bratäpfel im Sommer, während es vor Hitze nur so summt…
Die schönste Jahreszeit ist jedoch für mich der spätere Frühling, wenn es wieder heller wird und schon alles erkennbar grün ist, und ich weiß, das bleibt jetzt auch erstmal so; – es wird sogar immer besser und üppiger. Übrigens hat das rein gar nichts mit den Temperaturen zu tun. Es scheint eher eine Art Familienkrankheit zu sein, denn das Väterchen in Berlin wird ab Oktober auch immer grummeliger. Mendelsche Herbst- depression, quasi.
Also habe ich mir vor Jahren eine Art Ritual entwickelt: Die erste Kastanie, die ich im Herbst finde, stecke ich in meine Jackentasche. Sie wandert dann immer mit durch alle Jacken und Mäntel, dabei wird sie immer schrumpeliger und leichter. Sie erinnert mich daran, dass es irgendwann auch wieder heller und wärmer und grüner werden wird. Ich muss eben Geduld ha- ben, dann wird’s schon.
Und wenn ich im Frühjahr dann endlich die erste grü- ne Knospe sehe, nehme ich die Kastanie heraus und schleudere sie weg, soweit ich kann. Geschafft. Das mache ich bestimmt schon 10 Jahre so und irgendwie tröstet es mich, wenn ich zwischendrin immermal nach der Kastanie in meiner Tasche taste und weiß, irgendwann kommt wieder der Tag, an dem ich sie durch die Luft sausen lasse.
Doch wenigstens ein Gutes haben ja die kalten Jahreszeiten auch: Man hat plötzlich wieder Taschen, in denen sich Portemonnaie, Schlüssel, Telefon, Taschentücher, Notizbuch und Bollos verstauen lassen. Und eben eine wartende Kastanie. Der Likör steht ja zuhause.
Heute bin ich mal ernst. Seit Jahren beobachte ich das schon: der Umgang der Leutchen miteinander wird irgend- wie immer egaler. Und man hat immer bessere Ausreden dafür. Eine ganz beliebte Ausrede z.B. ist diese: „Ich sag’ immerhin ehrlich meine Meinung!“ Wahlweise auch: „Ich sag’s dir wenigstens offen ins Gesicht!“
Mit diesen Aussagen werden oft die reinsten seelischen Grausamkeiten abgeschlossen. Und der Angesprochene traut sich nicht mehr zu piepen, denn gegen Ehrlichkeit und Offenheit kann man ja nichts haben! Dass man vielleicht gerade mitgeteilt bekommen hat, dass man doof und hässlich ist und stinkt, scheint nur noch die Nebenbotschaft zu sein. Auch, dass der Liebste sich vielleicht ab sofort lieber einer Anderen zuwenden möchte, lässt sich doch viel besser verdauen, wenn man’s grob um die Ohren gehauen bekommt. Schließlich muss man sich doch die Wahr- heit sagen! Offen und ehrlich!
Natürlich soll man das. Ich bin ja auch sowas von dafür. Aber man kann ja auch kurz mal vorher überlegen, was diese Wahrheit im Anderen anzurichten vermag. Egal, ob es eine große oder kleine Wahrheit ist. Und dann mal gucken, ob man sie wirklich schonungslos raushauen muss. Ich meine jetzt nicht, dass man etwas beschönigen oder weglassen soll. Aber wer dazu fähig ist, sollte zumindest kurz mal einen Perspektivwechsel simulie- ren und sich vorstellen, wie er/sie sich selbst als Wahrheitsempfänger wohl fühlen würde.
Komischerweise bemühen sich nicht viele Leute um diese innere Vorarbeit und klotzen mal lieber gleich los. Haben die alle selber so ein dickes Fell? Also, eben keine Ahnung, wie man sich fühlt, wenn man fiese Brocken vor die Füße geschmissen kriegt? Denn meistens sind das doch Nachrichten, die ganz persönliche Dinge betreffen, die aufs Selbstbild zielen. Und da ist es eben nicht „sowieso schon egal“, wie man etwas sagt. Natürlich werden schlechte Nachrichten oder Anwürfe nicht besser davon, dass man sie freundlich vorträgt. Aber es gibt normalerweise auch keinen Grund, ihnen durch rüdes, unsensibles Verhalten noch größeres Gewicht zu geben.
„Ich bin ja wenigstens ehrlich!“ ist eins dieser beliebten Mundtotargumente. Also somit keins. Es soll den Empfänger der Botschaft stumm machen und auch das Gewissen des Senders. Aber das muss man ja auch erstmal wissen. Und nicht etwa den Totschläger auch noch für seine gute Tat loben.
Ein Hilfsmittel, das es meiner Meinung nach ermöglicht, die auch schlimmsten Wahrhei- ten schonender zu transportieren, ist die Diplomatie. Verbunden mit dem schon beschrie- benen Einfühlungsvermögen, genannt Empathie. Manche verstehen unter Diplomatie inzwischen vielleicht „jemanden geschickt übers Ohr hauen“. Aber eigentlich ist nichts anderes gemeint, als eben so zu vermitteln, dass möglichst wenig kaputt geht, ja vielleicht sogar beide Seiten einen Gewinn haben. Man kann damit tatsächlich fast alles verträglicher formulieren, ohne die Tatsachen zu verschwiemeln, das weiß ich aus Erfahrung (beider Seiten, übrigens). Und das ist gerade im Umgang mit Anderen wichtig. Die Mühe kann man sich doch ruhig machen, oder? Ich finde, ja. Ehrlich gesagt.
Heute musste ich im Treppenhaus lachen. Wahrscheinlich denken die Nachbarn jetzt, ich würde langsam gaga, weil ich plötzlich in irres Lachen ausbreche. Hab’ aber nur meine neue Rentenhochrechnung bekommen. Mal sehen, wie ich das noch hinkriegen kann, was ich mir unter meinem „Lebensabend“ vorstelle. Eigentlich möchte ich so eine von diesen durchgeknallten Alten werden, die ohne Schuhe im Superladen stehen und mit den Kartoffeln reden. Zuhause werde ich mir die Kartoffeln wohl sowieso nicht leisten können. Das würde ja gerade noch passen.
Allerdings stelle ich mir außerdem eigentlich vor, mit anderen Alten meiner Generation eine lustige, hedonistische Villa-WG zu gründen, in der den ganzen Tag getrunken, gekokst und gepokert wird. Also alles, was ich mir jetzt nicht recht erlaube. Dazu wird’s Pflegepersonal geben, das hauptsächlich nach Knackigkeit und Nervenstärke ausgesucht wird und in der Küche steht die allerbeste Köchin der Welt und macht mir immerzu die tollsten Bratkartoffeln. Das ist es nämlich, was ich den Kartoffeln vorher erzähle: Was für ein unglaubliches Glück sie haben werden, auf diese wunderbarste Weise ums Eck gebracht zu werden. Und beruhigend streicheln werde ich sie bestimmt auch mal.
Einige meiner Freunde haben sich übrigens schon auf WG-Zimmer beworben. Dann muss ich mich jetzt aber wirklich mal ranhalten mit den Rentenbeiträgen, damit’s auch was werden kann…
Wenn’s im Kopf saust und braust und alle Gedanken und Fragen gleichzeitig dran kommen wollen, gehe ich Spazieren. Der Rhythmus der Schritte bringt Ordnung ins Hirn und Ruhe in den Rest. Die Runde, die ich am liebsten gehe, führt mich an einer alten Weide vorbei. Ich meine, es wäre eine Knackweide.
Sie stand an einer großen Wiese, die von zwei Bächen umspült wird. Die alten Äste hingen tief und waren ideal, um darauf zu sitzen und über die Wiese zu schauen. Auf der Wiese kann man in der Dämmerung oft Kaninchen sehen und Graugänse, tagsüber sogar Falken, wenn man viel Glück hat.
Oft habe ich hier gesessen, wenn mich etwas sehr beschäftigte. Irgendwann mal entdeckte ich, dass jemand ein Herz in den Stamm geritzt hatte. Eins mit Initialen: D+K. Ich schwöre, dass ich das nicht war. Es haben ja noch andere Leute Vornamen, die so beginnen, aber merkwürdig fand ich es doch. So konnte ich ungefähr zwei Jahre beobachten, wie das Herz langsam nachdunkelte. Irgendwann war es nur noch für den zu sehen, der wusste, wo er gucken muss. Und Irgendwann guckte ich nicht mehr.
Vor ein paar Wochen habe ich hier noch mit V. auf der Wiese gepicknickt und der Weide ging es gut. Sie stand gebückt, wie alte Damen das manchmal eben tun. Und ausgerechnet heute, wo mir so viel durch den Kopf geht, finde ich sie so vor.
(Scheint das Jahr der fallenden Bäume zu sein. Das muss neulich passiert sein, als es gestürmt hat und ich so Sorge hatte um die Pappel vor meinem Fenster. Ihre „Schwester“ war ja von Kyrill umgeworfen worden. Nun also auch noch „meine“ Weide.)
Ich klettere vorsichtig auf ihren Stamm und nehme dort noch mal Platz. Ich werde aber gar nicht richtig traurig, weil mir plötzlich klar wird, dass hier das Zeichen ist, das ich heute brauchte. Dass die Weide ausgerechnet jetzt gefallen ist und ich sie heute so finde, hat zwar eigentlich niemand so geplant, aber symbolhaft finde ich es doch.
Die meisten schweren Dinge fallen oder vergehen irgendwann und machen Platz für Neues.
Eine Weile sitze ich noch da und werde immer zuversichtlicher, dann klettere ich langsam wieder herunter und springe das letzte Stück ins Gras. Dabei schürfe ich mir ein bisschen die Haut am Unterarm auf. Ist Recht, das wird mich in den kommenden Tagen erinnern.
Langsam gehe ich von der Wiese. Nur nichts überstürzen jetzt.
„Heinrich, der Wagen bricht.“
„Nein, Herr, der Wagen nicht,..“