Heute habe ich was gemacht, was ich bestimmt schon ein halbes Jahr nicht mehr gemacht habe. Und ich weiß eigentlich gar nicht richtig, warum ich es so lange nicht mehr gemacht habe, denn als ich’s vorhin machte, merkte ich sofort, wie sehr es mir gefehlt hat.
Ich hab’ meine Runde gedreht.
Will sagen, ich habe einen Spaziergang gemacht. Und zwar genau so einen, wie ich ihn jahrelang gemacht habe, d.h. immer dieselbe Strecke, immer der gleiche Weg. Sicher gibt es Menschen, die die Vorstellung, immer dieselbe Route zu nehmen, fürchterlich langweilig finden. Doch für mich hat dieser Spaziergang etwas Rituelles, auch was Medi-
tatives, Ordnendes.
Eine Gesundheitsfrau hat mir mal gesagt, ich sei wie ein Dampfkochtopf. Ich stünde im-
merzu unter einem inneren Druck, sähe aber von außen ganz unauffällig aus. Damals hab’ ich mich glatt irgendwie ertappt gefühlt. Allerdings haben Dampfkochtöpfe zum Glück ein Ventil, damit einem die Pellkartoffeln nicht einfach so um die Ohren fliegen. Mein Ventil ist „meine Runde“. Die dauert ungefähr eine Stunde, und ich gehe immer ziemlich forsch los und werde dann langsam langsamer.
Der Weg ist, wie ja schon gesagt, immer derselbe, und macht für mich sowas wie die Mitte aus. Außen verändert sich die Landschaft mit den Jahreszeiten und dem Wetter, so dass ich nie zweimal dasselbe sehe. Innen sind meine Gedanken, die sich beim Gehen ordnen. Durch die Bewegung werden sie wie durchgesiebt; – alles, was kleiner und nicht so wichtig ist, fällt durch die Maschen; – oben liegen bleibt, was Betrachtung nötig hat.
Ich gehe zunächst ein bisschen an der Ihme entlang, dann komme ich irgend-
wann unter einer Eisenbahnbrücke durch. An dieser Stelle denke ich jedes Mal an diese Szene aus „Cabaret“, in der Sally Bowles und der verklemmte Englischlehrer unter der Brücke stehen und auf den lauten Zug warten, damit sie mal so richtig losschreien können.
– Ich trau’ mich das nie.
Kurz danach gehe ich über eine kleine Holzbrücke, und dort kann ich nicht anders, es ist wie ein Reflex: ich schaue immer, ob ich im Bach darunter vielleicht doch mal das Euro-
stück blinken sehe, das ich vor Jahren mal symbolhaft dort reingeschmissen habe, als ich von dem rechtmäßigen Besitzer dieses Geldstücks furchtbar enttäuscht und verletzt wor-
den war. Dass es nun ein olles Eurostück war, ist vielleicht ein bisschen albern, aber ich hatte eben gerade nichts anderes von ihm zur Hand. Eigentlich hätte ich ihn damals in den Bach schmeißen und mir von dem Geld ein Eis kaufen sollen, aber man ist eben oft erst hinterher klüger.
Nach der Brücke ist es nicht mehr weit zu einer alten Weide, die ich gern besuche. Sie ist vor einem guten Jahr bei einem Sturm umgestürzt, lebt und grünt aber munter weiter, die zähe alte Dame. Ich bilde mir immer ein, sie kann hören, was in mir so saust und braust, und sagt mir dann: Jetzt beruhige Dich erstmal…
Heute wollte ich mich gern mal wieder ein bisschen an sie lehnen, mal fragen, wie’s so geht, die Sonne genießen und dem allgemeinen Vogelgepiepe in ihren Ästen zuhören, als plötzlich ein kniehoher, bis zum Hals nasser und schlammiger Hund auf mich zugestürzt kommt und in mir wohl seinen lang vermissten Spielkameraden wiederzuerkennen glaubt. Das mittelalte Herrchen in wurstigem Anorak steht schon etwas weiter weg und ruft halb-
herzig nach ihm. Das Vieh springt sofort an mir hoch und kriegt sich vor Begeisterung gar nicht mehr ein. Zum Glück ist er ein durchaus freundlicher Hund, aber mir persönlich jetzt einfach zu ungestüm. Ich versuche es mit: „Aus! Ab zu Herrchen!!“ und „Pfui!“. Sinnlos. Herrchen pfeift derweil durch die Zähne, ruft wieder, rührt sich selbst aber keinen kleinen Zentimeter. Inzwischen hat mir der Hund meine frisch gewaschene Jeans und die Turn-
schuhe ordentlich mit Pfotenabdrücken eingesaut.
Ich rufe dem Hundebesitzer zu, sein Hund höre ja wohl nicht besonders und er solle jetzt gefälligst mal selbst herkommen und mir das Tier vom Leib halten. Der Typ pfeift und ruft lahm ein bisschen weiter, obwohl der Nutzen inzwischen offensichtlich ist, und ist nach wie vor zu faul, sich auf uns zuzubewegen. Er müsste dafür schließlich gute hundert Me-
ter seines Spazierganges zurückspulen und dann erneut laufen. Das ist natürlich schon irgendwie unzumutbar. Es dauert also noch eine ganze Weile, bis der Hund endlich von mir ablässt und seinem Herrn doch noch hinterherwetzt. Ich bin richtig sauer und meine Hose sieht aus, als wär ich damit auf ’nem Festival gewesen. Eine Entschuldigung be-
komme ich natürlich auch nicht. Kurz überlege ich, ob ich den beiden hinterher soll, um mir den ignoranten Kerl mal aus der Nähe anzugucken, aber ich male mir meine Erfolgs-
aussichten auf einen vernünftigen Wortwechsel als gering aus und lasse es eben sein.
Gerade bemüh‘ ich mich, den Vorfall innerlich ab-
zuhaken und beobachte ein paar Rotkehlchen und Baumläufer beim Beerenpicken, da sehe ich einen anderen Mann mit Baseballkappe und Bril-
le, der mit seinem Fahrrad am Bach entlangfährt, immer wieder anhält und dann am Ufer suchend herumspäht.
Und denke so bei mir: Hat der da vielleicht verbo-
tenerweise irgendwelche Angelschnüre liegen? Schließlich ist das ein Naturschutzgebiet hier und da darf nicht jeder alles. Als ich mit ihm auf gleicher Höhe bin, wirkt er merkwürdig verlegen, nestelt sein Handy raus und ich muss mich gar nicht anstrengen, ihn sagen zu hören: „Ich bin’s! Ich bin an der Aue. Die Leichen…“
Der Rest geht in Bäumerauschen unter.
Mir wird ganz anders. Mein Gang wird hölzern. Welche Leichen denn, um Himmelswillen?!
Doch dann fällt zum Glück bald der Groschen. Er meint: „Die laichen…“. Es scheint hier um Fische oder Amphibien zu gehen, und der junge Mann ist vermutlich ein Umweltschützer oder sonstwie Naturbeobachter. Puh! Wie schnell das Karussell im Kopf doch lossausen kann!
Die nächste Viertelstunde gehe ich ruhig und in Gedanken. Aus Satzfetzen bilden sich Ketten, alles sucht sich seinen Platz. Ich lausche auf die Geräusche um mich herum: ei-
ne empörte Ente, ein ferner Zug, das letzte Abschiedsrauschen der Blätter, bevor sie zu Boden fallen und stumm werden.
Als ich mit meiner Runde fast fertig bin, sich in mir manches sortiert hat, fällt mir auf, dass ich immer wieder versuche, mal andere Vögel zu entdecken als Meisen, Grünlinge, Krähen, Elstern und Amseln. Als wären die einen interessanter als die anderen. Dabei sieht man manche Arten eben bloß so oft, dass sie sowas wie „Inventarvögel“ werden. Die stehen wie selbstverständlich und zuverlässig in fast jeder Landschaft herum.
Während ich das so denke, fliegt eine Elster keckernd über mich weg. Sicher bin ich mir nicht, aber vielleicht hat sie ja gedacht: Noch so’n „Inventarmensch“. Ich möcht’ hier ei-
gentlich auch mal wieder prächtigen ’nen Eskimo sehen…