Mal was von Früher…/Werkstatterinnerungen I

Ich habe ja mal vor Jahren in einer sympathischen kleinen Werkstatt Acrylglas verarbeitet. Die dortige Chefin wurde ruckzuck eine meiner besten Freundinnen (Freundin T.). Wenn sie nicht da war, war ich für das Telefon zuständig.

Telefonat mit Kunde T. von der Firma B.

T: „Ich brauche so Streifen opales Material.“
Ich: „Welches Maß?“
T: „Ich muss mal schnell den Zollstock holen, Moment…“
(Die Verbindung bricht ab. Ich lege also auf. Es klingelt erneut.)
T: „Da ist der Hörer plötzlich vom Kabel abgegangen! Das ist mir noch nie passiert.“
I: „Öfter mal was Neues. Also: Die Maße?“
T: „Moment… äh… (murmel) von hier…“
I: „Ach, von hier bis da! Alles klar. (gnicker) Wieviele?“
T: „Na, also, zwei brauch ich nur. (lacht) Großbestellung!“
I: „Hmmm, wie sind denn nun die Maße?“
T: „Ja. 122…“
I: „Zentimeter?“
T: „Ja, genau. Und die Breite… Moment, jetzt muß ich den Zollstock wieder zusammenklappen, sonst bring‘ ich mich hier noch um…“
I: „Nö, das is‘ auch nix, so kurz vor Feierabend.“
T: „Genau, das lohnt sich nicht mehr… Wir waren bei Millimetern, ne? 4,3!“
I: „Zentimeter!“
T: „Joh.“
I: „Also, ich wiederhole noch mal: 1220 x 43 mm.“
T: „Äääh, genau! Wie viele Millionen muss ich denn mitbringen dann?“
I: „Ich weiß nicht, sag Ich ihnen morgen. (Ich hätt‘ sagen sollen: Wie viele könn’se denn tragen?) Also Millionen werden’s wohl nicht. Vielleicht 50 Mark oder so.“
T: „Aha. Wenn ich 100 Mark mitbringe, muss ich nicht abwaschen?“
I: „Nö. Ich hab‘ außerdem heute schon abgewaschen, da müssten sie nächste Woche wieder kommen.“
T: „*****straße. So’ne Holperstraße ist das doch!“
I: „Genau, die Holperstaße!“
T: „Alles klar. Dann bis morgen!“

Charakteristisch für diese Zeit war übrigens, dass Neukunden oft an (der zugegeben recht kleinen) T. vorbei wollten, um „den Chef“ zu sprechen. Worauf sie gerne antwortete: „Ich bin die Chef und das (zeigt auf mich) ist die Werkstattleiter!“. Manche konnten es wirklich kaum fassen und fragten mehrmals nach, worauf wir immer wieder beteuerten, dass wir „wirklich alles selber“ machen. „Auch die schweren Sachen, ja.“
Tssss.

Parallelwelt/Neulich im Sanitätshaus

Alles voll gestopft mit Schachteln und Tütchen, bis unter die Decke. Bin umgeben von „Tena Lady“, Pediküre-Zubehör und Angora-Hemdchen.
Alle 3 dort beschäftigten Personen (Mutter, Vater, Sohn) bewegen sich mit affenartiger Langsamkeit. Besonders der Sohn, der ungefähr 50 ist und eine Günther Netzer-Frisur trägt. Er sieht völlig verraucht aus. Alle sehen so aus, als wären sie seit 20 Jahren nicht mehr vor die Tür getreten, wo das Leben brummt.
Hinterm Tresen die Mutter, davor eine mollige Omi. Auf dem Tresen liegen ziemlich benutzte hautgräulichfarbene Kompressionsstrümpfe. Sie haben Laufmaschen und sollen repariert werden.

Das Telefon klingelt. Keiner der drei reagiert. Es klingelt lange.
Dann geht der Sohn unsicher darauf zu, als wäre es ein Päckchen mit unbekanntem Inhalt. Er hebt langsam den Hörer ab, sagt mit unsicherem Gesichtsausdruck ein langes: „Sssss…“, horcht gleichzeitig dabei, stellt fest, dass niemand mehr dran ist und legt genauso langsam wieder auf. Nicht auszudenken, wie lange es wohl gedauert hätte, bis er gesagt hätte: „Sanitätshaus Brandes + Gieseking; Gieseking Junior am Apparat…?“
Da hätte ich auch rechtzeitig aufgelegt, schon wegen der Telefonrechnung.

Anschließend hat das Telefon nie geklingelt.
Ich stehe nun schon seit 5 Minuten da und jetzt sieht er mich. Er fragt, was ich möchte. Ich sage, ich brauche so ein Teil, um meinen Sitzball aufzupumpen. Er sieht mich an, als hätte ich einen merkwürdigen Dialekt drauf. Sein Gesichtausdruck schwankt zwischen Misstrauen und Unverständnis. Ich erkläre genauer und kann zusehen, wie dabei der Groschen fällt, langsam fällt.
Er fängt an zu kramen, Schubladen aufzuziehen, verschwindet in Katakomben, findet nichts. Er will seine Mutter fragen: „Muddi, diese Kundin möchte so einen Aufsatz, um Petzi-Bälle aufzupumpen.“
Da quatscht die Kundin mit den Strümpfen wieder dazwischen und Muttern hat ihre kurze Aufmerksamkeitsphase überwunden, redet weiter mit der Strumpfoma. Sohn steht eingefroren daneben. Sekundenlang.

Dann dreht er sich zu mir. Ich bin noch da. Er erschreckt sich.
Ich kann jetzt auch nicht gehen. Ich will das hier zu Ende gucken.
Irgendwann schafft er es, Muddi abzuwerben. Sie sieht mich kurz an, geht zu einer der Schubladen, die ihr Sohn schon 2x durchgeguckt hat, greift ein Tütchen heraus, schnappt: „Kostet 1 Euro!“
Ich bezahle, gehe fröhlich grüßend hinaus und stelle fest, dass sie mir ein Ventil verkauft hat, das ich nicht wollte.