Kastanienbewegung 2008/2009

Ja, da guckt man einmal nicht hin, schon ist wieder Herbst.

Vor einer guten Woche saß ich doch noch im dünnen Leibchen an einem schönen Quell-
bach und konnte mir einbilden, es sei noch sommerlich! Naja, wären da nicht die Vögel gewesen, die mich von oben aus dem Holunderbaum kräftig mit reifen Beeren bewarfen. (Übrigens nur mich. Mein lieber Begleiter, der ja direkt neben mir saß, blieb merkwürdi-
gerweise verschont. Also, meine Hose sah vielleicht aus!)

Kastanie_08_1

Und einen Tag später finde ich meine erste Kastanie.

Ein spezieller Moment für mich, jedes Jahr. Das Zeichen, dass der
Zenith eines Jah-
res wieder mal
endgültig über-
schritten ist
und ich mich
verabschieden
muss von Wärme,
Wachsen und Blühen.
Das Grün vergilbt und ver-
schwindet, das Wetter wird zugig, matschig und trübe. Das Licht geht…  – Ja, ich hör‘ ja schon auf! Natürlich gibt’s auch schöne Herbsttage, jaja. Bunte Blätterpracht. Klare Luft. Pfff. Und dann der Winter! Gemütlich und so. Kaminfeuer. Weihnachten. Romantische Schneelandschaften, – ach, geh’ mir weg! Ich hab’s eben doch lieber bunt, piepend und werdend. Diese ganze Vergeherei macht mich nun mal melancholisch.

Also habe ich mir vor Jahren einen persönlichen Brauch gebastelt: ich stecke die erste gefundene Kastanie in die Jackentasche; – wenigstens sie hat es in den nächsten Mona-
ten warm und wird zwischen Jacken- und Manteltaschen hin- und herwandern, denn ohne sie gehe ich nicht raus. Wenn ich dann draußen im Ungemütlichen unterwegs bin, taste ich oft mit den Fingerspitzen nach ihr, damit sie mich daran erinnert, dass die Natur ja irgendwann mal wieder aufwachen muss. Das tröstet mich dann ein bisschen. Je leichter und knautschiger sie wird, desto näher kommt der Frühling. Und wenn ich nach Monaten endlich wieder die erste aufgehende Blattknospe sehe, dann hole ich die angeknitterte Taschenbewohnerin raus, bedanke mich noch mal freundlich für ihre Hilfe, und werfe sie so weit von mir fort wie ich kann… Wieder mal geschafft!

Und offenbar bin ich nicht die Einzige, die ein bisschen Kalte-Jahreszeiten-Trost ganz gut gebrauchen kann, denn als ich im letzten Jahr darüber schrieb, haben sich spontan Einige diesem Brauch angeschlossen, so dass eine hübsche kleine „Kastanienbewegung“ ent-
standen ist. Zu wissen, dass nicht nur in meiner Tasche so ein kleines Knubbelding liegt, war natürlich gleich noch mal tröstlicher. Und im März haben wir unsere Kastanien dann sogar gemeinsam (jeder natürlich an seinem Ort) geworfen und damit den Winter beendet. Jaha, das waren nämlich wir!

Also rufe ich hiermit zur diesjährigen Kastanienbewegung auf!

Findet Eure Begleiterin und lasst sie in Eure Tasche einziehen! (Wer vorher noch ein Foto davon macht und es bloggt, macht mir übrigens eine Freude. *zwinkerzwinker!*) Und im Frühjahr verabreden wir uns dann wieder zum großen, internationalen Kastanienwurf. Es kann eigentlich diesmal nicht lange dauern bis dahin, denn meine diesjährige Kastanie ist sehrsehr zierlich (kaum größer als ein Centstück). War eben die erste, die mir begegnete.

Und ich behaupte jetzt einfach mal, das deutet vielleicht könntedochsein manweißesnich eventuell auf einen kurzen Winter…?

Sonntag fliegt sie!

Beinahe hätte ich sie schon vor zwei Wochen rausgeschmissen, denn es sind ja schon überall Knospen an den Bäumen; – manche blühen sogar schon! Aber dann kam’s eben doch noch nicht dazu. Das liegt an den besonderen Umständen in diesem Jahr. Zum ers-
ten Mal soll sie nämlich nicht alleine fliegen, die kleine Taschenbewohnerin. Sie hat sozu-
sagen eine nette Flugbegleiterin bekommen.

Und2_Kastanien damit diese fliegen kann, muss
ihr Werfer erst extra aus der Ferne anreisen. Ja, die Logistik von Groß-
ereignissen…

Jedenfalls: erfreulicher Weise
tut er das auch, und zwar am
Wochenende. Und dann flie-
gen diese beiden Hübschen
ins Ungewisse. Einen Para-
belflug werden sie wohl nicht hinbekommen, aber Parallelflug
ist durchaus im Bereich der Mög-
lichkeiten. Dazu gibt’s vielleicht noch ein Schlückchen Sekt, um den Winter zu verabschieden und den Frühling wach zu prosten.

Vielleicht wird er dann ja sogar wirk-
lich mal richtig munter, auch wenn’s
im Moment noch nicht recht danach aussieht. Die Kastanien haben jetzt aber lange genug in den Taschen ge-
wohnt, meine ist sogar immer von einer in die andere umgezogen… Mit den Finger-
spitzen erkenne ich nun jede Rille und jede Delle.
Übrigens die rechte da, das ist sie. Ich finde, man
kann sie ganz gut wieder erkennen.

Rebhuhn wird zwar nicht extra anreisen, aber sie hatte mir ja neulich hier einen Kommen-
tar geschrieben, dass auch sie und ihr Freund noch ihre flugbereiten Kastanien haben. Sie hatte außerdem vorgeschlagen, wir könnten uns doch auch zum Werfen verabreden! Darü-
ber habe ich mich riesig gefreut, und vielleicht gibt es ja auch noch ein paar Leutchen, die so kleine Schrumpelmieter haben. – Annemikki, was ist mit Dir? – Netrat? (Naja, sie sam-
melt Wespengallen, die wird sie wahrscheinlich nicht wegwerfen wollen, aber vielleicht irgendwas anderes?)

Bestimmt ist das der Anfang einer mittelgroßen Bewegung: Die der Kastanienwerfer! Ich finde, das ist eine ausgesprochen hübsche Bewegung und stelle mir vor, wie wir jedes Jahr mehr werden. Es ist ein schönes und tröstliches Gefühl, die Taschenkastanie in die Hand zu nehmen, an das nahende Ende des Winters zu denken, und zu wissen, da sind noch ein paar, die machen das auch.

Also, das wird jetzt wahrscheinlich den Meteorologen nicht so gefallen, aber ich schlage mal vor: wir beenden den Winter dann übermorgen um zwölf.

Taschenbewohnerin

Ich fürchte, nun lässt es sich nicht mehr ignorieren: Herbst.
Das ist die Jahreszeit, die ich am wenigsten mag. Könnte man meinetwegen weglassen. Denn nun wird das Licht immer weniger, alles legt sich schlafen und es wird ewig dauern, bis da wieder Leben reinkommt. Das lässt mich jedes Jahr durchhängen, mal mehr, mal weniger. Da hilft eigentlich nur noch Likör. Freundin T. z.B. hingegen liebt den Herbst und auch den Winter, und jedes Jahr streiten wir gutmütig darüber, wer von uns Recht hat. Sie mag die bunten Blätter, und auch Schnee findet sie zum Seufzen schön. Ich muss aber doch schlucken, wenn die Blätter fallen und alles so braun und abgestorben aussieht. Und Schnee: na ja, mal so für eine Woche, bitte sehr… Ach so, und das „gemütliche Teetrin-
ken“ mache ich doch sowieso das ganze Jahr über! Zur Not backe ich mir sogar Bratäpfel im Sommer, während es vor Hitze nur so summt…

Die schönste Jahreszeit ist jedoch für mich der spätere Frühling, wenn es wieder heller wird und schon alles erkennbar grün ist, und ich weiß, das bleibt jetzt auch erstmal so; – es wird sogar immer besser und üppiger. Übrigens hat das rein gar nichts mit den Temperaturen zu tun. Es scheint eher eine Art Familienkrankheit zu sein, denn das Väterchen in Berlin wird ab Oktober auch immer grummeliger. Mendelsche Herbst-
depression, quasi.

KastanieAlso habe ich mir vor Jahren eine Art Ritual entwickelt:
Die erste Kastanie, die ich im Herbst finde, stecke ich in meine Jackentasche. Sie wandert dann immer mit durch alle Jacken und Mäntel, dabei wird sie immer schrumpeliger und leichter. Sie erinnert mich daran, dass es irgendwann auch wieder heller und wärmer
und grüner werden wird. Ich muss eben Geduld ha-
ben, dann wird’s schon.

Und wenn ich im Frühjahr dann endlich die erste grü-
ne Knospe sehe, nehme ich die Kastanie heraus und schleudere sie weg, soweit ich kann. Geschafft. Das mache ich bestimmt schon 10 Jahre so und irgendwie tröstet es mich, wenn ich zwischendrin immermal nach
der Kastanie in meiner Tasche taste und weiß, irgendwann
kommt wieder der Tag, an dem ich sie durch die Luft sausen lasse.

Doch wenigstens ein Gutes haben ja die kalten Jahreszeiten auch: Man hat plötzlich wieder Taschen, in denen sich Portemonnaie, Schlüssel, Telefon, Taschentücher, Notizbuch und Bollos verstauen lassen. Und eben eine wartende Kastanie.
Der Likör steht ja zuhause.