Im Wartezimmer. (Ohne Pointe)

(Erstveröffentlichung: 21. November 2007)

Links gegenüber: Eine zierliche, irgendwie ätherisch-durchgeistigt wirkende Frau liest in einem Buch. Dabei lächelt sie ganz selig. Ihre Bewegungen sind zart, ihre Haltung sehr aufrecht. Sie hat einen langen weiten Rock an, ein schönes Tuch um die Schultern dra-
piert, die Haare hochgesteckt.

Direkt neben mir sitzt ihr Gegenteil: Eine herbe, große Frau mit Pottschnitt und Gesund-
heitsbotten. Einen dicken Aktenordner hat sie auf dem Schoß und erledigt offensichtlich ihren Bürokram hier. Sie schreibt etwas und tütet das Geschriebene in einen Umschlag, den sie umständlich anleckt und verschließt. Sogar Briefmarken hat sie dabei!

Irgendwie ist mir die Herbe sympathischer. Als die Zarte aufgerufen wird („Frau Sänger, bitte!“ – wie passend… wie wohl die Andere heißt?), erhebt sie sich langsam und schrei-
tet hinaus, dabei verliert sie ein schwarzes Bändsel aus ihrer Tasche.

Herein kommt ein älterer Herr, will sich auf ihren Stuhl setzen, da sieht er das schwarze Dings auf dem Boden liegen. Er schnippt es mit dem Fuß einen halben Meter weiter nach links. So, wie ältere Leute eben oft auch Sachen vom Bürgersteig in die Gosse befördern. Jedes Mal frage ich mich, was das soll. Wahrscheinlich ist ein Stück Papier oder eben so ein Bändchen zu hoch zum Drübersteigen. Dann setzt sich der Mann auf den freien Stuhl. Er sitzt da und guckt immer wieder ganz angestrengt zu dem Bändsel hin. Es stört ihn, er kann es da nicht liegen sehen.

Eine alte Dame öffnet die Tür, sie hat einen Blumenstrauß dabei, und ruft mit kräftiger Stimme: „Morgen!“. Dann geht sie gleich wieder hinaus. Die Tür bleibt angelehnt. Der Mann guckt nun auf die Tür.

Angelehnt. Nicht richtig auf, nicht richtig zu.

Er steht auf, öffnet die Tür, schaut der Blumenfrau vorwurfsvoll hinterher, schließt die Tür ordentlich, guckt sich um, ob wir’s auch mitbekommen haben. Dann setzt er sich wieder und guckt das Bändsel weiter an. Hat sich immer noch nicht bewegt.

Als mich die Sprechstundenhilfe aufruft, möchte ich fast sagen: „Ich komm’ gleich! Ich muss das hier erstmal zu Ende gucken…“

Aber dann bin ich doch gleich hin.

29 thoughts on “Im Wartezimmer. (Ohne Pointe)

  1. Öhm, ICH bin immer die, die die Bilder gerade rückt, heimlich, also wenn noch keiner da ist. WENN schon welche da sind, rück ich die Zeitschriften zurecht, ist unauffälliger. :DD

  2. Wartezimmertheater. Klasse.

    Ich sitz‘ auch gerne in der Kleinkunstbühne namens „Hotellounge“. Oder beobachte die Gruppendynamik bei Seminaren. Da gibt es immer die gleichen Typen (so’n bisschen wie in der Commedia dell’arte) die sauber ihre Rolle spielen. Mein Liebling ist der notorische Besserwisser, der den Vortragenden launisch ergänzt und die anderen Teilnehmer fröhlich mit seinen „Sachkentnissen“ belästigt.

    Dann gibt es noch das Ehepaar, wo er dem Vortrag lauschen will und sie ständig nachfragt worum es eigentlich geht (die sitzen auch gerne mal im Kino).

    Hach, es gibt so viel zu gucken.

    • Stimmt, die Archetypen sind überall. 😉 Ich seh‘ die überall, in der Bahn z.B. und sehr gern im Cafè, auch. Im Moment begegne ich z.B. noch öfter als sonst der „Frau-die-oben-an-der-Rolltreppe-erstmal-stehen-bleibt“.

      Ja, zu gucken gibt’s wirklich den ganzen Tag. Und ich wunder‘ mich immer, wenn Leute mir sagen: „Was DIR alles so auffällt!“ Wo sind DIE denn eigentlich den ganzen Tag, – kriegen die gar nix mit?

      • „Frau-die-oben-an-der-Rolltreppe-erstmal-stehen-bleibt“ ist ja ein alter Indianer-Ehrenname. Der Stamm der Tollpatsch-Apachen vergibt ihn jedes Jahr an die Frau, die den weißen Mann am fiesesten geärgert hat. Männlicherseits ist das dann der „Krieger-der-bei-MäcD0nalds-nicht-weiß-was er-essen-will“.

        • Ach, und dann gibt’s noch „Leute-die-anrufen-und-sagen-„Ich-hätte-da-gern-mal-ne-Frage!“ und „Die-die-zur-Einkaufsrushhour-einen-Einkauf-von-2-Euro-78-mit-’ner-Karte-zahlen-die-erst-beim-dritten-Durchgang-geht“.

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