Wie ich gestern nicht überfahren wurde und hinterher ein mieses Gefühl hatte

Gestern hat es hier ordentlich geregnet und der Wind hat den Regen immer mal in die Waagerechte gepustet. Wenn man zuhause am Fenster sitzt, ist das gemütlich. Wenn man mit vollem, schwerem Rucksack vom Einkaufen nach Hause radelt, ist das anstren-
gend. Als ich zum Lindener Markt komme, und in die Posthornstraße rechts abbiegen will (so richtig mit Hand raushalten und so), kommt mir dort ein Wagen quer, er will in die Einfahrt der Post, und zwar mit Karacho!

Alles geht ganz schnell, ich blicke noch ins Fahrergesicht, sehe Schockschreck, – genauso gucke ich bestimmt auch gerade. Ich sehe mein Vorderrad an seiner Stoß-
stange, fühle schon einen Aufprall, sehe mich schon auf der Haube oder drunter liegen. Doch er hat gute Bremsen und trifft sie auch.
Mein Herz schlägt wieder.

Ich stehe genau quer vor seinem Auto, zwischen uns sind nur noch wenige Zentimeter. Meine flache Hand schnellt hoch auf mein Brustbein, ich sacke etwas ein: die interna-
tionale Geste für „großer Schreck und noch mal davongekommen“. Ich schreie ihn an: „Mann!“, steige wieder auf und fahre weiter. Nun merke ich auch, wie meine Knie verreisen und der Kopf wieder loslegt: Das war aber echt knappski! Weihnachten im Gipsbett und so…

Ich will nur weg, flüchten, nach Hause. Ich brauch’ jetzt ’nen Kakao. ‚Nen starken.

Neben mir taucht das Auto wieder auf, der Fahrer hat die Scheibe runtergekurbelt und entschuldigt sich heftig, er habe mich nicht gesehen, ich sei im toten Winkel gewesen, er sei untröstlich, und ob er was für mich tun könne. Ich rufe: „Ja!!! Nicht wieder machen!“ und strample weiter. Er wolle heute Abend für mich beten, sagt er. Meinetwegen. Ein mittelalter Mann, ein Bürger. Fast tut er mir leid, er windet sich in Schuld. Ich will nach Hause. Also lächle ich ihn an und rufe: „Ist ja zum Glück nix passiert, da können wir beide doch froh sein! Ich bin in Ordnung, es war ja nur ein Riesenschreck!“ Dabei prasselt der kalte Regen auf meine Brille und ich lasse mich nicht aufhalten.
Hause. Kakao. Lass’ mich.

Er fährt an mir vorbei. Doch 100 Meter vor mir hält er an, öffnet die Tür, kommt mir mit ausgestrecktem Arm entgegen. Er will mir die Hand geben, also halte ich auch an, obwohl ich gar nicht will. Er faselt was von: “…wenigstens ein kleines Schmerzensgeld, auf den Schreck, – es tut mir so leid!“, und drückt mir die behandschuhte Hand. Ich sage noch mal: „Neinnein, …ist ja gut. Ist ja alles gut gegangen, nix passiert…“ Dann steigt er wieder ins Auto, und ich beeile mich auch, wieder loszuradeln.

5erEr hat mir einen zerknitterten 5-Euro-Schein in die Hand gedrückt! Und ich habe ihn genommen, ohne zu denken.

Der Schein wandert in die Tasche. Mir kommt ein komi-
sches Gefühl. Einen hässlichen verknitterten 5er für’s Nichtüberfahrenwerden? Was für eine Art Ablasshandel hat hier gerade stattgefunden? Jetzt fühle ich mich ganz merkwürdig. Ich bin beschämt. Eigentlich sollte er sich schämen! Das mit dem Fast-Anfahren nehme ich ihm nicht übel. Das hätte mir auch passieren können, und er hat gut reagiert.

Bis er die Idee mit dem Freikauf hatte. Er wollte sich unbedingt entschuldigen, im Wortsinn. Doch das ist gründlich daneben gegangen.

Den 5er kriegt jedenfalls der erste Punk in die Hand gedrückt, der mich morgen in der Innenstadt anschnorrt…

17 thoughts on “Wie ich gestern nicht überfahren wurde und hinterher ein mieses Gefühl hatte

  1. „Ja!!! Nicht wieder machen!“

    find ich obertoll! Da kann man ja eigentlich nur unter Schock drauf kommen.

    Freude auf meiner Seite, dass Dir nix weiter passiert ist, als unverhofft Geld zu verdienen. Auch, wenn Du das ohne Schock wahrscheinlich niemals genommen hättest.

    Aber nich, dass Du des Bürgers Fehler unbewusst wiederholst und den Punk vorher mit dem Fahrrad umzuheizen antäuschst! Dit wär anenttäuschend!

  2. Es ist mir immer irgendwie peinlich, wie doof sich gerade fromme Leute manchmal benehmen… Erst „Ich werde für Sie beten…“ und dann sich so dusselig freikaufen wollen…

    Ich freu mich auch sehr für Dich, dass Dir nichts passiert ist, obwohl der Schreck bestimmt heftig war…

    • Muss Dir nicht peinlich sein, Du kannst doch da nix für!

      Hast Du übrigens gesehen, dass ich gestern schon eine Deiner Fragen beantwortet habe (s.u.)? Und morgen kommt schon die nächste…

      :wave:

      • Ja, natürlich hab ich’s gesehen und mich auch sehr darüber gefreut. Und ich kann nur bestätigen und wiederholen, was hier schon viele geschrieben haben, nämlich dass dieser Adventskalender eine ganz tolle Idee von Dir ist und uns allen viel Spaß macht, wirklich.

        Aber nochmal – natürlich bin ich nicht für jeden Quatsch verantwortlich, den fromme Leute irgendwo auf der Welt machen (und sie machen sehr viel Quatsch, Gott sei´s geklagt…), aber trotzdem macht es mich grummelig, weil es sozusagen dem Image der ganzen Veranstaltung schadet. Mehr als einmal haben mir Leute gesagt: „Gott – der alte Herr im Himmel – mag ja ganz okay sein, aber sein Bodenpersonal hier taugt ja nun wirklich gar nix…“ Und da kann ich noch so rumwirbeln und was dran zu ändern versuchen – die schlechten Beispiele kriegen immer eine sehr viel größere Aufmerksamkeit…

        Jetzt wird demnächst dieser Film „Jesus Camp“ in die Kinos kommen, der eine Art christliches Terroristenausbildungslager in den südlichen USA beschreibt, wenn ich da richtig informiert bin, und ich werde mir ein Jahr lang anhören müssen, daß wir „im Grunde genommen“ ja auch nicht viel besser als die Taliban sind… Seufz…

        Ok, genug geklagt. Also nochmal… Dein Adventskalender und die kleine „Freundes“-Runde hier um Dein Blog herum machen mir sehr viel Freude, und vielleicht lernt man sich ja auch noch ein bisschen mehr „in echt“ kennen…

        • Erstmal Danke für die Blumen! Freut mich, wenn Dir die Aktion (die Du ja nicht unwesentlich mitgestaltest) gefällt. 🙂

          Was das Andere angeht, muss jeder sehen, dass er nicht verallgemeinert, denn das ist ungerecht. Jeder spricht doch mit dem, was er sagt und tut (oder wie er wirbelt) erstmal nur für sich und soll auch so betrachtet werden. Ich glaube, Positives hebt sich auch immer ab. Religion hin oder her.

          Auf den Film werde ich mal achten. Hysterie und Superlative sind leider allgemein grade sehr in Mode. Da wünsch‘ ich mir auch Besserung.

  3. Du bist zum Glück mit dem Schrecken davongekommen. Bei Dunkelheit und Regen sind viele Autofahrer radfahrerblind.
    Die Sache mit dem Fünf-Euro-Schein ist wirklich kurios. So sind also die Tarife: Einmal zu Tode erschrecken – 5 Euro.
    Immerhin wird der Punk sich freuen, und du hast ein besseres Gefühl in der Sache.

    Lieben Gruß
    Jules

    • Also, wenn’s auch noch dunkel gewesen wär’… *schüttel*

      Ja, ich will den 5er hier nicht haben. Erst wollte ich mir zum Trost ein paar „Himmlische“ (wie passend) dafür kaufen, aber die hätten mir sicher nicht geschmeckt. Und so freut sich vielleicht einer, der gar nix davon weiß.

      Ebenso lieb zurückgegrüßt!
      Theobromina

  4. Abgesehen von der pekuniären Kuriosität kann ich die ganze Situation lebhaft nachfühlen, weil wir hier in unserer Stadt auch zu den „beinharten Radfahrern“ gehören, wie letztens mirgegnüber erwähnt wurde. Dem ist (wohl auch in Deinem Sinne) hinzuzufügen, daß nicht wir es sind, die so beinhart sind, sondern das Radfahren an sich, wenn einem Regen, Eis und Schnee frostig ins nackte Gesicht peitschen, die Reifen den Grip verlieren, die Einkäufe die Beweglichkeit einschränken und die Winterklamotten das umsschauen erschweren. Wir geben uns redlich Mühe sicher zu fahren, indem wir uns richtig einordnen, gesetzestreu Lichter und Reflektoren anbringen, Handzeichen geben, etc., aber sobald uns nur ein einziger Autofahrer richtig übersieht, kann ganz schnell mal der Ofen aus sein.

    Es wäre schon viel geholfen, wenn die ganzen Rennfahrerposer mal für einen Tag mit dem Radl durch die Stadt müssten, um ein Bewußtsein dafür zu entwickeln, wie schwach wir im Verhältniss zu einem metalliclackierten Kotflügel sind, der uns beinahe mit 70 Km/h streift, während uns rechts noch 15 cm zum Randstein bleiben, an dem wir uns schnell mal die Zähne ausbeissen können.

    Viele Autofahrer achten auf uns und nehmen auch mal eine halbe Minute Wartezeit in Kauf, wo sie hinter uns herdackeln anstatt uns übers Bankett zu drängen, das man mit dem Radl beim zurückfahren nicht in spitzem Winkel schneiden darf, gell?
    Also das ist keine Generalanklage gegen die Automobilisten, sondern nur ein Aufruf zur Aufmerksamkeit, Geduld, Rück- und Voraussicht, wenn ungepanzerte Verkehrsteilnehmer mit im spiel sind.

    Jetzt muss ich mich noch bei der lieben Blogautorin Theobromina entschuldigen, daß ich ihr Kommentarfeld so zweckentfremdet habe, aber der Beitrag hat wirklich einen Nerv bei mir getroffen.

    Mein Vorschlag für den Fünfer wäre vielleicht noch die Anschaffung eines dieser pinkfarbenen Fähnchen, die man sich ans Fahrrad basteln kann, damit Dir auch in Zukunft ja nix passiert. Das würde uns alle sicherlich zutiefst betrüben.

    Damit wünsche ich allen eine gute Fahrt und verbleibe mit verkehrssicheren Grüßen,
    Euer Indogermane

      • Jo…

        ich find Deinen Vorschlag sehr gut. Jeder etwas rasantere Autofahrer sollte dazu verdonnert werden, sich seine bevorzugten Rennpisten mal aus der Perspektive des Ungepanzerten anzuschauen.

        Meine frühere WG-Mitwohne CoRo hatte nen kleinen Motorroller, und die – selbst immerhin 50 km/h schnell – werden genauso gerne übersehen. Einmal bin ich mit ihr in die Stadt gefahren – 10 km Landstraße und Stadt. Hölle.

        Aus irgendeinem Grund machen diese Roller etliche Autofahrer im Stadtverkehr noch aggressiver, ich kriegte das mit, dass die auch wenn sie 49 km/h fahren, in einer Straße wo 50-Begrenzung ist, noch „unbedingt“ überholt werden müssen. CoRo ist verdammt oft angenölt worden, weil sie irgendwann im Stadtverkehr nur noch in der Mitte der Fahrbahn fuhr.

        Rasern ist definitiv nicht bewusst, dass Mopedder, Radler und Rollerer – im Falle eines Sturzes – nicht mehr nur 40 cm breit sind, sondern mit ihrer vollen Höhe – mindestens 1,6 Meter – die Fahrbahn belegen.

        Über so ’nen Menschenkopf rollt ein Autoreifen locker weg, wenn der auf der Fahrbahn liegt. Das ist ein ganz merkwürdiges Geräusch. Meine Schwester stand als 7jährige direkt daneben, als ihre beste Freundin wegen einem Fahrradsturz unter den Zwillingsreifen von nem Lastwagen kam.

        • @ HikE

          Auch in kleinen Miniautos kriegt man Ärger, wenn man in der Stadt nicht mindestens 60 fährt, meine Erfahrung. Ich mag nämlich nicht rasen und kenne jetzt schon viele Hupvarianten. Auf Landstraßen werde ich auch ständig überholt, wenn ich „normal“ fahre. Als Roller- oder Radfahrer muss man dann manchmal aufpassen, dass einen der Fahrtwind nicht von Sattel reisst. Das ist ein unerschöpfliches Thema, glaube ich.

          Das mit der Freundin Deiner Schwester ist… hapuh!…dazu fällt mir nix ein. Ich wette, sowas begleitet einen für’s ganze Leben.

        • Sorry fuer die finstere Story… vielleicht liest ja zufällig irgendein notorischer Miniauto-Verfolger oder Mokick-/Radlerhasser mit und kommt zur Besinnung, bevor er sich selber ein fremdes Menschenleben aufs Gewissen lädt. Die Sache mit der Freundin war ein Unfall, der nicht mit Raserei zu tun hatte, sondern mit einer Verbauung des Gehwegs; trotzdem ertönt das gleiche Geräusch wenn ein Raser über nen Schwächeren rollt.

          Gerade in der dunklen kalten Jahreszeit sollten viel mehr Leute drüber nachdenken, warum sie es im warmen trockenen Auto so eilig haben, dass die Zeit fürs Gucken und Abwarten nicht da ist.

          Wenn einem wirklich mal der Tote Winkel passiert, isses schon schlimm genug.

          Ich hab mein Auto nach einem extrem üblen Erlebnis Mitte 2004 fast nur noch stehen lassen und 2005 abgeschafft, weil ich keine anderen Menschen mehr gefährden wollte.

    • Genau. Die sitzen da warm und sicher in ihren Blechhöhlen und sind sich oft gar nicht bewusst, was sie da an Kraft bewegen. War also gar keine Zweckentfremdung, sondern ein guter Platz für eine Denkschubse, lieber Indogermane. Hoffentlich nimmt sich’s jemand zu Herzen.

      (Fies auch: Plötzlich aufgerissene Fahrertüren am Straßenrand. Da hat’s mich auch schon ein paarmal fast erwischt.)

      Als Radfahrer denkt man irgendwie immer für die Autofahrer mit, sicher ist sicher. Allerdings, seit ich selber einen Führerschein habe, weiß ich auch, wie schnell so ein Radler plötzlich auftauchen kann. Dann muss man einen schnellen Bremsfuß haben. Zum Glück hatte den der Mann gestern ja auch, ich war ihm ja auch zuerst gar nicht böse, denn er war genauso erschrocken wie ich.

      Allgemein sollte man ruhig mal gucken, was die Anderen um einen herum so machen. Das ist nicht nur oft interessant, sondern auch hilfreich.

      Ein pinkfarbenes Fähnchen, allerdings… Ich weiß nicht.

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