Taschenbewohnerin

Ich fürchte, nun lässt es sich nicht mehr ignorieren: Herbst.
Das ist die Jahreszeit, die ich am wenigsten mag. Könnte man meinetwegen weglassen. Denn nun wird das Licht immer weniger, alles legt sich schlafen und es wird ewig dauern, bis da wieder Leben reinkommt. Das lässt mich jedes Jahr durchhängen, mal mehr, mal weniger. Da hilft eigentlich nur noch Likör. Freundin T. z.B. hingegen liebt den Herbst und auch den Winter, und jedes Jahr streiten wir gutmütig darüber, wer von uns Recht hat. Sie mag die bunten Blätter, und auch Schnee findet sie zum Seufzen schön. Ich muss aber doch schlucken, wenn die Blätter fallen und alles so braun und abgestorben aussieht. Und Schnee: na ja, mal so für eine Woche, bitte sehr… Ach so, und das „gemütliche Teetrin-
ken“ mache ich doch sowieso das ganze Jahr über! Zur Not backe ich mir sogar Bratäpfel im Sommer, während es vor Hitze nur so summt…

Die schönste Jahreszeit ist jedoch für mich der spätere Frühling, wenn es wieder heller wird und schon alles erkennbar grün ist, und ich weiß, das bleibt jetzt auch erstmal so; – es wird sogar immer besser und üppiger. Übrigens hat das rein gar nichts mit den Temperaturen zu tun. Es scheint eher eine Art Familienkrankheit zu sein, denn das Väterchen in Berlin wird ab Oktober auch immer grummeliger. Mendelsche Herbst-
depression, quasi.

KastanieAlso habe ich mir vor Jahren eine Art Ritual entwickelt:
Die erste Kastanie, die ich im Herbst finde, stecke ich in meine Jackentasche. Sie wandert dann immer mit durch alle Jacken und Mäntel, dabei wird sie immer schrumpeliger und leichter. Sie erinnert mich daran, dass es irgendwann auch wieder heller und wärmer
und grüner werden wird. Ich muss eben Geduld ha-
ben, dann wird’s schon.

Und wenn ich im Frühjahr dann endlich die erste grü-
ne Knospe sehe, nehme ich die Kastanie heraus und schleudere sie weg, soweit ich kann. Geschafft. Das mache ich bestimmt schon 10 Jahre so und irgendwie tröstet es mich, wenn ich zwischendrin immermal nach
der Kastanie in meiner Tasche taste und weiß, irgendwann
kommt wieder der Tag, an dem ich sie durch die Luft sausen lasse.

Doch wenigstens ein Gutes haben ja die kalten Jahreszeiten auch: Man hat plötzlich wieder Taschen, in denen sich Portemonnaie, Schlüssel, Telefon, Taschentücher, Notizbuch und Bollos verstauen lassen. Und eben eine wartende Kastanie.
Der Likör steht ja zuhause.

7 thoughts on “Taschenbewohnerin

  1. Das ist ein sehr schönes Ritual!

    Ich bin seit 10 Jahren lediglich am Gallen sammeln, was im Winter und Frühjahr immer zu abstrusen Kleinstwespen in meiner Wohnung führt. Waren es 1997-98 noch massenhaft Cynips quercifolium, die Gewöhnliche Eichengallwespen, die von innen gegen meine Fenster kloppte, weil sie natürlich in der warmen Wohnung alle schlüpften und „Frühling! Wo is mein Baum…“ dachten, kamen 1998 die Eichenziergallwespen dazu.

    Die Schwammgallwespen und Knoppergallwespen haben es glaub ich alle nicht bis zum Ausflug geschafft, aber von deren kullernden Kinderstuben hatte ich auch keine Hundertschaften in meine Höhle eingefahren, bzw. diese, um einige Erfahrungen reicher, gleich in einem durchsichtigen Käschtle geparkt.

    • „Gallen sammeln“ klingt schomma seeehr guuut… Natürlich weiß ich aber, was gemeint ist. Und dann? Stapelste die? Oder schmeißt Du die auch im Frühling weg? Wahrscheinlich nicht…

      Hoffentlich kommen aus meinen Kastanien nicht auch irgendwann mal Brummer raus! Die „Kastanienmännchen-Hornisse“ oder so.

  2. Weißt du, was mich erstaunt? Das die Kastinie schon so geschrumpelt ist. War das früher nicht anders? Ich habe noch Tierchen aus Kastanien und Streichhölzern gemacht, und ich kann mich nicht erinnern, dass sie so rasch verschrumpelt wären.

    Deine Idee finde ich prima, und wie dein Text um die Kastanie läuft, gefällt mir ebenso.

    • Du meinst früher war alles besser? Sogar die Kastanien? Ist was dran…

      Nein, dieser putzige Knubbel liegt mir nun auch schon seit drei Wochen auf der Tasche, da hat sie schon etwas Schrumpelarbeit geleistet. Die waren dieses Jahr früh dran. Ist doch gut, da hab‘ ich nicht so viel zu schleppen…

      Vielen Dank für’s Primafinden und Dir einen schönen „Sonntag“ noch, lieber Jules.

  3. Jetzt weiß ich gar nicht, ob ich genug Platz für Gallwespenbälle UND Kastanien habe. Mir gefallen nämlich beide Varianten sehr gut. Da mache ich einen Kompromiß und nehme drei herrenlose Eßkastanien in meinen Taschen auf, mal sehen, wie die verschrumpeln tun…Ich habe nämlich zwei steinalte riesige Eßkastanien in meinem Garten stehen, die mir jeden Herbst ein schlechtes Gewissen machen, weil ich ihr Früchte liegen lasse.
    PS.:Ich liebe den Herbst jedes Jahr ein bisschen mehr im Gegenteil zu früher, da wollte ich immer nur Frühling. Jetzt ist der Frühling die Belohnung ( dass es so lange kalt und dunkel war ) und die Drohung ( dass bald alles doch wieder braun und verbrannt sein wird )… auch nicht direkt der Brüller, aber so sieht es eben eine Gelegenheitsmelancholikerin wie ich. Ganz liebe Grüße! Ich kaufe mir jetzt erst mal ein Tafelklavier in Wildau bei Berlin. Sechs Zentner Lebensfreude, das ist doch schon was, oder?!

    • Das ist in der Tat was, meine Liebe! Bestimmt kannst Du auch drauf spielen, oder? Na, da wird ja bei Euch was los sein demnächst. Ein Klavier ist gut bei Gelegenheitsmelancholie UND bei beschwingter Laune. Ich würde auch unheimlich gerne spielen können.

      Allerdings, was die Taschen angeht: Da passen so drei Kastanien doch viel besser rein und sind auch tragbarer. (Oder wiegen Deine Esskastanien womöglich 2 Zentner das Stück? Wahrscheinlich nicht.) Und über die Nichteingesammelten freuen sich bestimmt die Eichhörnchen und so…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Optionally add an image (JPEG only)